Wachau Magazin 2019
virtuosen Konzert ihrer Aromen steht der Kontrapunkt einer frischen, knackigen Fruchtsäure entgegen. Es ist der Geschmack des Sommers, und ich muss in die- sem Augenblick an Lisl Wagner-Bacher denken, die ein- mal nach dem Geheimnis ihrer berühmten Marillen- knödel gefragt wurde. Ihre Antwort war nur auf den ers- ten Blick simpel. Sie sagte: »Die Reife der Früchte.« Eh klar, dachte ich mir, aber es war noch nicht die ganze Antwort. Denn reif ist eine Marille erst, wenn sie aus eigenen Stücken ihren Logenplatz am Baum verlässt, um der Schwerkraft zu folgen und zu Boden zu fallen. Dort ist idealerweise ein Netz gespannt, damit die Marille sich beim Aufprall auf den Boden nicht weh tut, und erst wenn die solcherart geerntete Frucht direkt und ohne schockartig abgekühlt zu werden den Weg in die Küche findet, sind die Voraussetzungen für das kulinarische Hochamt erfüllt. Wobei: Wer sagt, dass es kein Hochamt ist, hier eine Marille nach der anderen roh und sonnenwarm zu ver- zehren, wie ich es gerade tue? Ich kann einfach nicht aufhören, weil es kaum eine bessere als diese prächtige, pausbäckige Frucht, diese Wachauer Marille gibt, deren Herkunft nicht von ungefähr geschützt und geschätzt wird. Im Kopf überschlage ich, wieviel Geld ich noch im Hosensack habe und ob es wohl reicht, um noch eine Steige einzukaufen – später, wenn ich geduscht bin und ohne Kollateralschäden meine Hand wieder in die Ho- sentasche stecken kann. GESCHICHTE HINTER DÜRNSTEINS WÄNDEN An einem Sonntag im Advent spaziere ich durch Dürn- stein. Vielleicht sollte ich anmerken, dass der Advent nicht unbedingt die Hauptreisezeit in die Wachau ist, ob- wohl hier und dort Adventmärkte und Turmbläsereien stattfinden, kleine Akzente in einer Landschaft, die sich für den Winter fit gemacht hat und unter dem Silber des Frosts liegt, der, wie mir das einmal der legendäre F.X. Pichler bei einer Verkostung in seinem Keller erzählt hat, wie Honig vom Waldviertel nach unten kriecht. Klar, Dürnstein mit seinem Stift und dem pittoresken, blau-weißen Turm der Stiftskirche ist einerseits prächtige Kulisse für alle, die sich auf der Donau durch die Wachau treiben lassen, um vomWasser aus zu begreifen, wie ent- schlossen sich der Strom seine Schneise in die Südspitze der Böhmischen Masse geschlagen hat. Aber kaum hat man sich einmal auf einen Spaziergang durch Dürnstein gemacht, die Gemeinde, in der keine 900 Menschen woh- nen, begreift man, dass der Ort mit seiner weit über tau- sendjährigen Geschichte so etwas wie der Bahnsteig Neundreiviertel für das Erleben der Wachau ist. Auf die- sem Bahnsteig in King’s Cross reisen bekanntlich Harry Potter und seine Kommilitonen Jahr für Jahr nach Hog-
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