Wachau Magazin 2018

8 0 | WA C H A U M A G A Z I N 2 0 18 K U LT U R J U W E L ass ein Kirchenbaumeister auch recht ansehnliche Schlösser bauen kann, sieht man am Beispiel Gra- fenegg. Tatsächlich war es der Dombaumeister zu St. Stephan in Wien, Leopold Ernst, der das nieder- österreichische Kleinod in den Jahren 1840 bis 1888 im Stil englischer Tudor-Gotik umgebaut hat. Entstanden ist ein Märchenschloss, das es an romantischen Historismen nicht fehlen lässt. Was für eine Verwandlung! Auftraggeber für das »Zauberschloss«, dessen Ursprung auf eine Mühle im 13. Jahrhundert zurückgeht, war der damalige Besitzer Au- gust Ferdinand Graf Bräuner. Der Adelige galt als ziemlich umtriebiger Zeitgenosse und war oft auf Reisen im Aus- land. In England lernte er jene Schlösser kennen, die ihm später als Vorbild für Grafenegg dienen sollten. Die Anlage hatte ohnehin eine Auffrischung nötig. Über die Jahrhun- derte hatten die Besitzer viele Male gewechselt, ebenso oft wurde das Schloss erweitert und umgebaut. Und immer wieder auch zerstört. PHÖNIX AUS DER ASCHE Am Ende des Dreißigjährigen Krieges eroberten 1645 die Schweden das Schloss und nisteten sich für drei Monate ein. Nach deren Abzug blieb eigentlich nicht viel übrig, und so entschied Graf Bräuner, als er das desolate Schloss im 19. Jahrhundert kaufte, großzügig umbauen zu lassen – mit typisch englischem Charakter. Und so verlieh Baumeister Leopold Ernst der historischen Substanz durch Hinzufügen von Treppengiebeln, Arkaden und jeder Menge Fassaden- dekoration im neugotischen Tudorstil ein märchenhaftes Facelift. Wer das Vergnügen hat, das Schloss heute zu be- suchen, findet mit dem 32 Hektar großen Schlosspark und der Konzertbühne Wolkenturm in Grafenegg ein einzigarti- ges Gesamtkunstwerk vor. Wieder, muss man sagen. Denn auch Bräuners Romantikschloss erfuhr Verfall und Zerstö- rung. Während der Besatzungszeit von 1945 bis 1955 wurde Grafenegg völlig verwüstet, auch die kunsthistorischen Sammlungen weitgehend vernichtet. Selbst der überaus reizvolle Schlosspark, der im 19. Jahrhundert im Sinne eines Arboretums mit eine Vielzahl exotischer und heimi- scher Koniferen und nahezu 200 verschiedenen Nadel- baumarten bepflanzt war, geriet schlimm in Mitleiden- schaft. Und doch, seinen besonderen Charme hat das Gelände selbst in diesem Zustand nie verloren. VOM ABENTEUERSPIELPLATZ ZUR KULTURARENA »In den 1960er-Jahren, als ich ein Kind und das Schloss noch nicht renoviert war, diente das gesamte Areal mir und meinen Geschwistern als riesiger Abenteuerspielplatz. Da gab es so viel zu entdecken, auch so manche mystische und geheimnisvolle Ecke«, schwelgt der heutige Besitzer Tassilo Metternich-Sándor bei einem Rundgang in Erinne- rungen. Sein Vater, Graf Albrecht Metternich-Sándor, der durch Erbschaft in Besitz des Anwesens gekommen war, begann in den 1970ern mit der sukzessiven Renovierung. Er war es auch, der in Grafenegg die Tradition von regel- mäßigen Kulturereignissen begründete, die heute mit dem Musikfestival internationale Reputation genießen. Mit Un- terstützung von Bund und Land wurden Schloss und Park vollständig renoviert, sodass es heute zu recht neben Schloss Anif bei Salzburg und Burg Kreuzenstein als be- deutender Schlossbau des romantischen Historismus in Österreich gilt. Das bestätigt auch ein Blick in die prächti- gen Räumlichkeiten, die man im Rahmen von Führungen besichtigen kann. RUNDGANG MIT WEITBLICK »Einer der schönsten und mir auch persönlich liebsten Räume ist die Schlosskapelle. Die Kombination aus dem spätgotischen Marien-Flügelaltar mit Schreinfiguren aus dem Jahr 1491 und dem strahlend blauen Himmel, der mit goldenen Sternen übersät ist, ist mithin das Schönste in un- serem Schloss«, schwärmt Tassilo Metternich-Sándor. Ein weiteres Prunkstück ist der Rittersaal aus 1851, in dem kostbare Hölzer, Leder, Marmor und Metalle verarbeitet wurden, und der von einer beachtlichen Kassettendecke gekrönt wird. Der Weg führt weiter in die Bibliothek, die zwar während der Besatzungszeit von den Sowjets devas- tiert, aber gleichzeitig von den Soldaten seinerzeit mit den bedeutenden Werken des Marxismus bestückt wurde. Es ist wohl die einzige Schlossbibliothek Österreichs mit einem derartigen Bestand. Ein weiterer, äußerst reizvoller Raum ist für den Schloss- herrn der Gartensaal im Neorenaissancestil, ebenfalls von Dombaumeister Leopold Ernst errichtet. »Das Besondere sind die großen Panoramafenster auf zwei Seiten. Von hier aus hat man einen sensationellen Blick über die gesamte Parkanlage«, erklärt Tassilo Metternich-Sándor und weist damit auf eine weitere Augenweide hin: den 32 Hektar gro- ßen Landschaftspark. Vor 300 Jahren ursprünglich als streng geometrischer barocker Sterngarten angelegt, wurde später im 19. Jahrhundert ganz im historisierenden Stil des Schlosses auch ein Arboretum angelegt, also eine Sammlung von Bäumen aus aller Welt. »Heute ist der Park ein ausgesprochen seelenvoller Ort mit seltenen Pflanzen, alten Baumsolitären und zeitgenössischen Kunstwerken«, sagt der Schlossherr und lädt alle Besucher zum Verweilen in diesem Paradies ein. Und das ist es wirklich – ein Para- dies der Kunstsinnigkeit im breitesten Sinn, ganz beson- ders aber im Sommer. Dann machen es sich die Besucher bei Sommerkonzerten und Musikfestival mitunter auch mit einem Picknickkorb unter den Bäumen gemütlich. Wer hier jemals in der Wiese gelegen hat und bei den Klängen von Brahms, Beethoven und Mozart in den nächtlichen Ster- nenhimmel geblickt hat, spürt, mit welcher Feinfühligkeit hier alles – vom Schloss über Park bis zur modernen Orchesterbühne Wolkenturm – ineinander verwoben ist. Grafenegg ist mehr als ein Schloss, es ein Gesamtkunst- werk mit viel Seele. D Die Grafenegger Kultur-Highlights 2018 finden Sie auf Seite 72 sowie im Veranstaltungskalender ab Seite 82.

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