Cirque Gourmet 23
40 Cirque Gourmet 2022 in sonniger Oktobertag im niederöster- reichischen Breitenwaida – die Wein- ernte ist in vollem Gang: Ingrid Groiss dirigiert ihre Lesetruppe, schneidet Trauben, karrt und schleppt Kisten und packt überall mit an, wo es gerade nötig ist. Von früh morgens bis spät in die Nacht. Als die Weinviertler Winzerin den Betrieb ihres Vaters übernahm, trauten ihr das viele nicht zu – heute zählt sie zu den Besten der Region. Über die Frage, ob sie das als Frau allein schaffe, kann sie nur staunen. Für die junge Winzerin ist der Knochenjob Normalität. »Als Frau muss man sich je- doch immer wieder beweisen«, räumt sie ein, »es wird mehr Einsatz erwartet als von meinen männlichen Kollegen.« Söhne bekommen den Vortritt Das Winzerhandwerk wird seit jeher von Männern dominiert. Frauen traut man weder die körperlich schwere Arbeit noch die nötige Durchsetzungskraft zu. Nach wie vor übergeben nur wenige Väter den Wein- baubetrieb ihren Töchtern: Haben sie einen männlichen Nachfolger, bekommt meist der den Vortritt – gibt es keinen Sohn, muss die Tochter eben heiraten und der Schwiegersohn in die Bresche springen. Die Steirerin Katharina Tinnacher ist die Ausnahme der Regel: Für ihren Vater stand nie zur Diskussion, dass eine seiner Töchter einmal den Betrieb übernehmen würde – mit oder ohne Mann an der Seite. Die Winzerin ist mit den Mühen des Winzerhandwerks aufgewachsen – die steilen Lagen sind nur händisch und mit viel Einsatz zu bewirtschaften. Sie weiß was sie will und setzt es auch durch. Ihre Weiß- weine besitzen eine markante Handschrift sowie Herkunftscharakter und reihen sich unter die Führenden der Südsteiermark. Frauen haben besseren Geruchssinn Nicht nur im Winzergewerbe – in der ge- samten Weinbranche herrscht ein Defizit an Frauen. Ob als Sommelier, im Handel, bei Verkostungen oder Standesvertretun- gen. Auch wenn der Anteil an weiblichen Studierenden an Weinfachschulen steigt, übt nur ein Bruchteil den Beruf später auch tatsächlich aus. Selbst unter privaten Weinfreaks finden sich immer noch wenige Frauen. Es scheint tatsächlich einer der letzten männlichen Domänen zu sein. Umso erstaunlicher, da Studien darauf hinweisen, dass Frauen sensorisch die Nase vorne haben: Laut neueren Forschungser- kenntnissen besitzen sie nicht nur einen feineren Geruchssinn als Männer, sie können sich auch besser an Düfte erinnern. Eine Studie der »Federal University of Rio de Janeiro« etwa zeigt, dass Frauen fast um die Hälfte mehr Nervenzellen in ihrem Riech- kolben besitzen als Männer. Neurowissen- schaftliche Forschungen an der »University of Pennsylvania« unterstützen diese Theorie: E In der Weinbranche sind Frauen rar – ob Winzerin, Sommelière oder Kritikerin, sie alle sind immer noch eine Ausnahme in der Männerdomäne. Zu Unrecht – denn Frauen haben scheinbar beim Verkosten die besseren Karten. Text: Christina Fieber NASENLÄNGE VORNE Ingrid Groiss: Grüner Veltliner Sauberg »Tradition« 2019 Alte Rebstöcke, einzigartiges Terroir, aufmerksame Handarbeit und zurückhaltende Kellertechnik sind die Zutaten des ausdrucksstarken und vielschichtigen Veltliners von steilen Lagen. www.ingrid-groiss.at Katharina Tinnacher: Sauvignon Blanc Ried Welles – Große STK Ried 2018 Sauvignon Blanc der Extra- klasse von biologisch bewirtschafteten Weinbergen auf kargem Schotter- konglomerat. Präsentiert sich mineralisch, würzig-rauchig und dezent fruchtig. www.tinnacher.at Foto: Gerald Hörmann INGRID GROISS hat das Weingut ihres Vaters über- nommen und bewirtschaftet es alleine. Sie ist bekannt für ausdrucksstarke Grüne Veltliner aus erstklassigen Weinviertler Lagen. Die südsteirische Biowinzerin KATHARINA TINNACHER spielt in der Oberliga. Ihre filigranen Sauvignon Blancs sorgen auch im Ausland für Furore. Unter schwierigen Bedingungen in den steilen Weinbergen trotzt sie der Natur das Äußerste ab. EINE Foto: Herbert Lehmann
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